Geschichten von nebenan!

Erfahrungsberichte aus meiner Arbeit mit betroffenen Kindern & Angehörigen

Felix war 6 Jahre alt, als sein Vater an einem Herzinfarkt starb.

Er spricht nur selten über seine Gefühle, seine Gedanken. Für ihn ist es besser, sein Lego kaputt zu machen, Dinge zu zerreißen und zu schweigen. Alles besser, als reden zu müssen.
Felix ist heute 8 Jahre alt und in der Schule eher der ruhige Junge, der funktioniert, sich anpasst und bloß nicht auffallen möchte.
„Besser so“, sagt er: „Dann werden auch keine Fragen über meinen Papa gestellt! "
Seine Lehrerin ruft mich vor kurzem an mit der Bitte, dass ich den Kontakt zu dieser Familie aufnehme. Sie erzählt davon, dass mit Felix „etwas nicht stimme“. 'Was nicht stimmt“, was ein Satz, denke ich und doch wird er sooft benannt und ausgesprochen.
Felix und ich treffen uns am FriedWald. Hier ist sein Vater beerdigt worden. Sein jüngerer Bruder und seine Mama sind auch mit dabei.
Felix läuft ein wenig voraus, sein Bruder an seiner Seite. Zwischendurch reden sie miteinander und schauen zu mir. Ich beobachte die Situation, grinse den Jungs zu und bleibe wachsam.
Felix‘ Mama und ich reden, ich hinterfrage und höre zu.
Sie spricht davon, dass Felix in den letzten 2 Jahren nur selten mit zum Grab gehen wolle. Sie müsse es dann immer mit einer Belohnung verbinden, oft mit Spielzeug, was dann aber abends mutwillig kaputt gemacht wird.
Ich spreche Felix darauf an, der mittlerweile mehr hin hört und neben uns her läuft.
„Weisst du, immer wenn ich traurig bin dann möchte ich am liebsten alles zerstören, ich bin dann so sauer auf alles. Und am meisten auf meinen Papa, dafür das er uns einfach alleine gelassen hat!" - Pause - „Mit dir, Mama, kann ich nicht darüber reden. Wenn ich weine, weinst du mit und das halte ich nicht aus. Am liebsten würde ich hier im Wald auf seinen Baum klettern, bis hoch in die Krone und so laut schreien, damit Papa mich hört. Damit er uns hört! Es ist einfach so doof und scheisse das er nicht mehr da ist. - Felix wird immer lauter - „Und Lego! Lego hat er mit mir gebaut und jetzt ist er nicht da. Er soll sehen, dass ich es lieber kaputt mache, anstatt aufzubauen. Das ist seine Aufgabe!“
Wir sprechen weiter und es tut gut zu hören, dass Felix all das (r)aus-sprechen kann und nicht mehr 'runterschlucken' muss.
Zum Ende der Begleitung stehen wir an Papa's Baum, schauen bis hoch in die Krone und ich bemerke, dass es überall kleine Stämme und Äste gibt zum drauf klettern.
Felix kann wahrscheinlich meine Gedanken lesen und fragt mich, ob er klettern dürfe.
Und warum nicht? Was meint seine Mama? Sie nickt.
Nur sein Papa ist unter diesem Baum beerdigt, wenn nicht jetzt, wann dann?
Und dann klettert er hoch, soweit wie es geht und er sich sicher fühlt. Schreien muss er nicht, aber das Gefühl ein Stück weit näher an seinem Papa sein zu können, tut gut. Tut ihm gut. Und wir anderen stehen unten und staunen über die Kraft von diesem Kletter-Felix.

Tränen laufen bei Mama und bei Felix. Glückstränen, keine Wuttränen... ♥️💧

Eine Portion Glitzer bitte...


Yarom ist ein aufgeweckter, kluger 7-jähriger Junge, der mit mir am Tisch seines Kinderzimmers sitzt. Wir reden über die Schule, die seit dem Tod seiner Eltern immer aufwühlender und in den Augen von Yarom immer anstrengender wird. „Seitdem Mama und Papa tot sind, muss ich immer wieder die Zähne zusammen beißen und darf nicht auf dem Schulhof weinen. Weil, alle Kinder schauen mich dann an und zeigen mit dem Finger auf mich, das ist ganz schön doof!". Yarom bohrt beim Reden mit dem Bleistift in sein Radiergummi hinein, wippt mit den Beinen und schluckt die Tränen runter. Bloß nicht weinen, das ist seine Devise.
Yarom's Eltern sind vor ein paar Monaten bei einem Unfall verstorben, jetzt lebt er gemeinsam mit seiner Schwester in einer Wohngruppe. „Weisst du Yarom, wenn man Tränen eine Zeitlang runterschluckt und immer die Zähne zusammen beißt, dann staut sich irgendwann so richtig die Wut im Bauch an. Wie ein richtiges Wutmonster, was irgendwann rausplatzt, vielleicht in Momenten wo man sich denkt: „… ach du Schreck warum jetzt?“
Hast du sowas schon mal erlebt? So einen Moment, vielleicht in der Schule?“
Und Yarom erzählt, von Streitereien, die er mit anderem Mitschülern hat, von Wutausbrüchen, von Momenten wo er immer wieder die Zähne zusammen beißen muss, damit keiner seine Traurigkeit sieht, weil er seine Eltern so sehr vermisst. 💔 Und von Tränen die nur geweint werden dürfen, wenn keiner bei ihm ist.
Ich hole aus meiner Tasche viele kleine Glitzerdosen in verschiedenen Farben, eine Creme, und ein kleine Dose. All das lege ich auf den Schreibtisch seines Zimmers und ich sehe wie die Augen von Yarom immer größer werden. Ganz neugierig fragt er, was wir damit machen und wofür die ganzen Glitzerdosen da sind. Und ich erkläre ihm, dass wir eine „Zauber-Mut-Creme“ herstellen.
Eine Creme, die Wutmonster in Mutmonster umwandeln kann, eine Creme die einen mutig werden lässt, Vertrauen in sich selbst gibt und hin und wieder trösten kann, wenn man Mama und Papa so feste vermisst.
Und Yarom legt los: Ein bisschen rot, für das mutig sein und die Energie, blau für das Vertrauen in sich selbst und den Glauben, dass man Wut in Mut umwandeln kann. Orange, für die Willenskraft und gelb für die Freude im Leben. 🤸
Und dann noch ganz viele 'Mischmasch-Farben', weil es ihm soviel Freude bereitet, die allererste Creme zu erstellen.
‌Wir lachen und mischen, rühren und kreieren die erste 'Zauber-Creme' fur Yarom. Und was soll ich sagen? Sie ist perfekt geworden. Oder was meint ihr? ❤️ 

Das sind Finn und Thore,

ihre Mama ist vor 2 Wochen verstorbenund ihre Jungs wollen und dürfen bei der Beisetzung im Friedwald dabei sein. Die Familie und ich sitzen ein paar Tage vorher zusammen und wir überlegen und sammeln Ideen, damit die beiden Kinder (entwicklungsentsprechend) mit einbezogen werden können. Wir schreiben auf Kärtchen was besonders wichtig für die Kinder und die Familie ist. Diese Ideen darf ich mit euch teilen: 

* "Die Jungs dürfen die Urne von Mama selbst bemalen und abwechselnd zum Grab tragen."

* "Ein Gebet wird von Oma vortragen und die Lebensgeschichte von Mama wird erzählt."

* „Tannenzweige und Eicheln sammeln wir vorher, damit man alles drumherum schön schmücken und herrichten kann.“

* „Blumenblüten oder Rosen besorgen wir und legen es vorher ins Grab als Zeichen der Liebe."

* „Die ganze Erde wird Stück für Stück in das Grab hineingelegt fürs Be-greifen.“

* „Warmen Kakao und Tee mitnehmen, damit es bei der Kälte auch wieder warm um's Herz wird."


An dem Tag der Beerdigung bekomme ich diese Bilder und eine Nachricht vom Vater geschickt, die ich mit euch teilen darf: „Herzlichen Dank an dich, dass du so offen mit mir und meiner Familie über die Beerdigung meiner Frau gesprochen hast. Uns selbst wären diese Dinge niemals in den Sinn, geschweige denn in Frage gekommen. Die Idee, das Grab selbst zu schließen war die Beste. Wir haben alle unsere Hände genommen, das Grab meiner Frau 'zugebuddelt', viel dabei geweint, geschwiegen und zum Schluss gesungen. Die Kinder sind immer mit einbezogen worden, haben zwischendurch Trink-und Kekspausen gemacht und mit Hilfe von meiner Schwester sind Fotos und Videos gemacht worden. In der ganzen Schwere hat es sich gut angefühlt. Danke."

"Sauerlandstones"

Mein Projekt, das viele Menschen zu Tränen rührte.
Steine, die das Herz berühren. 
In einem Artikel der Westfalenpost kannst du mehr dazu lesen!

"Deine Geschichte gehört zu dir, wie deine Gefühle!

Versuche sie nicht in der Flut zu verdrängen, sondern erzähle deine Geschichte, drücke deine Emotionen aus und heile dein Herz!"

-Chantal Hanske-